Je älter die jungen Hunde werden, um so schwerer wird es nun auch, genauere Zeitbestimmungen für die einzelnen Lebensabschnitte und der in ihnen auffallenden Verhaltensweisen und Reifungsvorgänge
festzulegen. Bei den einzelnen Hunderassen mag es da größere Schwankungen geben, da manche früh andere später reif sind. Auch kann sich jetzt die Erscheinung der Verjugendlichung, wie sie im
Haustierstande häufig ist, bereits deutlicher abzeichnen, das heißt, daß manches in körperbaulicher wie seelischer Entwicklung nicht so vollkommen oder verzögert ausreift. Gerade die
Rangordnungsphase beleuchtet das deutlich. Sie ist nämlich bei temperamentvollen oder grundsätzlich zur Aggression neigenden Hunden viel schärfer erkennbar als bei Hunden, die jene Eigenschaften
nicht so ausgeprägt aufweisen.
Grundsätzlich entwickelt sich die Rangordnung innerhalb der Welpenschar schon in den ersten Lebenswochen; es wäre sogar denkbar, daß die körperliche Entwicklung während der vegetativen Phase in
einem ursächlichen Zusammenhang mit der künftigen Rangordnung steht. Der Welpe, der sich am stärksten entwickelt, wird eben der Ranghöchste, und derjenige, der am schwächsten entwickelt ist, wird
der Rangniederste. Ich bin aber gar nicht so sicher, ob das alles so einfach ist. Rangordnung ist nicht nur eine Frage der körperlichen Stärke. Sie ist bei einem Lernwesen wie dem Hund auch eine
Frage der Intelligenz, und es mag sein, daß spätere körperliche Unterschiede erst eine Folge davon sind. Wenn ein Welpe mit schneller Auffassungsgabe mehr Futter oder qualitativ besseres Futter
ergattert, hat er Aussicht, stärker als seine Geschwister zu werden. Das kann dann vortäuschen, daß seine Rangordnung nur eine Frage körperlicher Kraft ist.
Aber Kraft ist bei einem sozialen Rudeltier nicht alles. Ich habe oft genug erlebt, wie sich ein großer, kräftiger Hund einem Hund einer viel kleineren Rasse freundlich ergeben zeigt, weil der
Kleine älter ist. Ich habe ebenso gesehen, wie ein körperlich weit unterlegener Hund seinen großen Artgenossen einsichtslos immer wieder angriff, obgleich er dabei jedesmal Prügel bezog. Auch
hier war der Große jünger, aber es lag dabei eine schwierige Situation vor, wie sie nur von Menschen herbeigeführt werden kann. Versetzt man nämlich einen älteren, sich zum Hause gehörig
fühlenden Hund in einen Zwinger und führt man einen jüngeren in Haus und Familie ein, dann hat man eine unlösbare Konfliktsituation geschaffen. Der Ältere kann es nicht verwinden, daß ein
Jüngerer seinen Platz eingenommen hat, und der Jüngere ist natürlich nicht bereit, seinen Platz aufzugeben, er fühlt sich wohl auch verpflichtet, Familie und Haus gegen den in den Zwinger
verbannten Hund zu verteidigen. Rangordnung also ist nicht oder zumindest nicht allein eine Frage der körperlichen Überlegenheit, sie ist wohl weit mehr eine Frage der psychischen
Überlegenheit.
Nun kann man von sechs oder acht Wochen alten Welpen noch nicht erwarten, daß sich ihre seelische Überlegenheit voll entwickelt hat. Es muß zur Festlegung der Rangordnung innerhalb der Welpenschar - die ja einmal ein Rudel werden soll - noch eine Art von Abschlußprüfung vorgesehen sein. Auf freier Wildbahn jagende Wölfe können es sich nämlich nicht leisten, daß die Rangordnung immer wieder in Frage gestellt wird. Das würde die Schlagkraft des Rudels erheblich schwächen.
Solche Dinge kann man nur in Zwingern oder Gehegen sehen, in denen Rudelfremde zusammengesetzt werden, die nicht in Familienverbänden aufgezogen worden sind. Aber selbst dann, wenn man Hunde
zusammensetzt, die in verschiedenen Familien aufgewachsen sind, geht es immer noch nicht gut, weil einmal die Individualität der Familien Unterschiede im Aufwachsen der Jungtiere mit sich bringen
kann, und außerdem, weil eben diese zusammengewürfelten Tiere ihre Rangordnung nicht eingespielt und gefestigt haben. Sie müssen sie nun austragen, und das ist bei Hunden, die älter als ein Jahr
sind, sehr problematisch. Leicht genug kann das sogar mit dem Tod des einen oder anderen Hundes enden. Auf jeden Fall wird, wenn die zusammengesetzte Gruppe größer ist, immer eine gewisse Unruhe
und Neigung zu aggressiven Handlungen vorhanden sein.
Anders ist das, wenn eine Welpengruppe gemeinsam die Rangordnungsphase durchläuft. Nur sie ist von größerer Unruhe erfüllt, und wir können auch viel aggressives Verhalten beobachten. Allerdings
sind die Junghunde noch in einem Alter, in dem sie sich nicht - oder in der Regel nicht - ernsthaft verletzen. Eine Ausnahme machen da die einst auf Aggressivität gezüchteten Terrier. Ich habe
selbst gesehen, wie schwer ein Skye-Terrier von seinen Geschwistern verletzt worden ist, und die Züchterin berichtete mir, daß solche »Unfälle« fast in allen Würfen zu verzeichnen seien.
Doch soll uns hier weniger diese übersteigerte Aggression beschäftigen als vielmehr das Normalverhalten bei gesunden Junghunden. Und da läßt sich in dieser Zeit sehr schön beobachten, wie neben
lausbubenhaften Rangeleien - die natürlich mit viel Geschrei verbunden sind - auch sehr überzeugende Mutproben geliefert werden, bei denen es auf »Wesensfestigkeit«, auf seelische
Widerstandskraft allein ankommt.
Ich kann mich hierzu auf ein Beispiel beschränken, da es sehr gut zeigt, worauf es bei diesen jugendlichen Rangordnungs »Kämpfen« in Wahrheit ankommt. Ich hatte einmal einen Wurf von fünf
norwegischen Elchhunden, die als sehr temperamentvolle und stimmfreudige Kerle während dieser Zeit jeder Rokkerbande alle Ehre gemacht hätten. Dabei konnte ich folgende Szene beobachten: einer
hatte sich mit einem Futterbrocken unter die Hütte verzogen. Die anderen vier standen nun um die fast von allen Seiten offene Bodenvertiefung herum und unternahmen abwechselnd Scheinangriffe auf
den ersteren. Es sah zunächst so aus, als wollten sie ihn mit aller Gewalt da herausbekommen. Aber bald zeigte es sich, daß sie keine Gewalt anwandten - alles, was sie da mit Geschrei, Gebell und
Knurren, mit Drohschnappen und Beißstößen in die Luft aufführten, waren nichts anderes als Einschüchterungsversuche, so, als wollten sie zu viert den fünften seelisch fertigmachen und zur Flucht
veranlassen. Aber der ließ sich nicht irremachen, schnappte nach allen Seiten und behauptete seine Position, bis die anderen der Sache müde wurden und einer nach dem anderen abzog. Er hatte die
Probe bestanden.
Da sich nun solche Szenen wiederholten, und zwar mit vertauschten Rollen, so liegt der Schluß doch wohl nahe, daß in der Rangordnungsphase weit mehr die psychische Widerstandskraft, die
psychische Überlegenheit eine Rolle spielt als die körperliche Kraft.
Wir wissen auch aus Beobachtungen an anderen sozial lebenden höheren Tieren, wie etwa Elefanten oder Pavianen, daß dort die Führung der Herde oder des Trupps nicht vom stärksten, sondern vom
erfahrensten, meist altem Tier gebildet wird. Das bedeutet, daß die Erziehung der Nachkommen auf Anerkennung dieser Form von Autorität ausgerichtet sein muß. Nicht anders ist das auch bei unseren
Hunden, und das äußert sich ebenso bei deren Festlegung der Rangordnung.
Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn wir in dieser Entwicklungsphase schon sehr schön beobachten können, daß der Vater- Rüde keineswegs wegen seiner körperlichen Überlegenheit respektiert
wird. Das taten die Welpen zweifelsohne früher, als ihnen sozusagen die nötige Einsicht fehlte und sie daher auch entsprechend »handgreiflich« diszipliniert werden mußten. Zwar fährt der Vater
auch jetzt ein oder das andere Mal ganz energisch dazwischen, wenn die Rangeleien der Junghunde über das Ziel hinausschießen und sie zu aggressiv werden. Sonst aber genügt von seiner Seite ein
mahnender Blick, um den Sprößling zur Ordnung zu rufen. Umgekehrt wird aber deutlich, wie sehr die Junghunde an dem Alten hängen. Es ist das keine Unterwürfigkeit, wenn sie immer wieder zu ihm
hingehen, um ihm rasch einmal die Schnauze zu lecken. Ich habe mich schon in meinem früheren Buch gegen den von Rudolf Schenkel gebrachten Ausdruck »aktive Unterwerfung« in diesem Zusammenhang
ausgesprochen. Für mich ist das eine Anhänglichkeitsbezeugung, ein Ausdruck der »Gefolgschaftstreue«, wie Konrad Lorenz sagen würde, kurz, eine freiwillig zum Ausdruck gebrachte Anerkennung der
väterlichen Autorität im Sinne von »Vater ist der Beste! «
Wem das zu vermenschlicht klingt, der schlage im Kapitel »Der Hund als Freund« nach. Tatsache ist, daß das Zusammenleben der Junghunde mit ihren Eltern überaus harmonisch verläuft. Es gibt in der
Hundefamilie kein »Generationenproblem«, und kein Junghund steigt gegen die Hundegesellschaft auf die Barrikaden. Das Vorhandensein einer anerkennenswerten Autorität gibt ihm die Sicherheit
seiner Existenz und damit die Möglichkeit zur freien Anpassung an die bewährte Sozialordnung.
Man muß dazu aber auch sagen, daß auf diesem Wege die Umweltoffenheit erhalten bleibt, die Fähigkeit, ein Leben lang weiterzulernen, sich veränderten Umweltbedingungen erfahrungsmäßig anzupassen.
Das ist der Grund, warum der Vaterrüde als Autorität bestehen kann, und das ist der Grund, warum der Sohn einmal selbst als Vater für seine Kinder Autorität sein wird. Wäre das in der
Wolfsfamilie nicht so, dann wären die hundeartigen Raubtiere ausgestorben, ehe der Mensch aus ihnen seinen treuesten Begleiter hätte gewinnen können.
Wollen auch wir uns in dieser Zeit »artgemäß« verhalten, dann brauchen wir nur nachzuahmen, was der Vaterrüde macht. Er baut jetzt alle Spiele mit den Welpen aus, insbesondere die Jagd- und
Beutespiele, und er »schult« sie dabei bald soweit ein, daß sie allmählich das Rüstzeug als brauchbare Jagdgehilfen durchgeübt beherrschen. Auch wir können jetzt schon mehr vom Junghund fordern,
wenn wir durch vorwiegend stimmliche Belohnung die von uns gewünschten Verhaltensweisen aus dem Spiel herausarbeiten. Wir sollten es uns dabei zur Regel machen, sogleich mit einem anderen Spiel
fortzusetzen, wenn der Hund das von uns Gewünschte richtig gemacht hat Würden wir in diesem Fall die Übung wiederholen, dann würden wir den Hund verunsichern, er müßte glauben, daß es noch nicht
richtig war.
Das gilt ganz besonders von den Unterordnungs- und Gehorsamsübungen, die wir jetzt täglich ein wenig schulen können, aber möglichst nicht länger als eine Viertelstunde lang. Kommandos wie »Sitz«,
»Platz«, »bei Fuß«, das läßt sich jetzt schon ganz gut beibringen, darf aber niemals langweilig für den Junghund werden und schon gar nicht solche Formen annehmen, daß er diese Übungen fürchtet.
Ich habe schon Hunde gesehen, die sich versteckten, wenn der Herr mit ihnen ausgehen wollte, weil bei diesen Spaziergängen dann stets solche Übungen zum lästigen Zwang wurden. Manche Menschen
können es nämlich nicht lassen, sich in der Öffentlichkeit mit ihren Hunden zu produzieren. Man sollte daran denken, daß ein Junghund draußen durch vielerlei abgelenkt werden kann - daher diese
Dinge nur an Orten üben, die ihm gut vertraut sind. Später, wenn er es einmal kann und sein Können ihm selbst Freude macht, wenn unsere Partnerschaft so gut gediehen ist, daß es dem Hund auch
Freude macht, unseren Wünschen zu folgen, dann ist das was anderes. Ich traue klugen Hunden soviel Beobachtungsgabe zu, daß sie erkennen, welchen gesteigerten Wert ihre Herrchen darauf legen, daß
sie vor einem Publikum besonders schön folgen. Was dann kommt, ist Charaktersache; es gibt nämlich Hunde, die gerade dann - nicht folgen. Aber vielleicht auch nur deswegen, weil sie die Erfahrung
gemacht haben, daß das Herrchen es nicht wagt, sie öffentlich zu bestrafen.
Jedenfalls erkennt der Welpe in diesem Lebensabschnitt keineswegs mehr allein die rohe Gewalt an, sondern sieht die Überlegenheit desjenigen, dem er sich unterordnen soll, auf weit höherer Ebene.
Er will die Autorität anerkennen können, denn sie allein gibt ihm die Gewähr, daß Können und Erfahrung des Rudelführers sein Überleben absichern. Das ist nicht von Beginn dieses Lebensabschnittes
da, sondern reift in dieser Zeit allmählich heran und wird gegen Ende des vierten Lebensmonates klar erkenntlich. Dabei wird auch das Spiel nun nicht allein mehr zur selbstbezogenen Übung des
Könnens,
sondern unabhängig davon auch zu einer gruppenbindenden Verhaltensweise, sowohl unter den Welpen als auch mit den Eltern. Der erwachsene Hund spielt mit uns ja auch nicht, um sein Können
auszubauen, sondern als partnerschaftliche Übung. Die Freude liegt dabei nicht, wie im Welpenalter, an dem Entdecken des eigenen Könnens, an der Bewegung an sich, sondern an dem »Miteinander«. So
wird das Spiel zu einem Teil der Gruppenbindung, die wir im Kapitel »Der Hund als Freund< noch genauer betrachten werden.
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zitiert von Eberhard Trumler aus seinem Buch:“Hunde ernst genommen”, Piper Verlag,1989, 9.Auflage